Meditation zum 4. Fastensonntag
Blinde sehen?
Im Evangelium geht es vor allem um ein großes und erfreuliches Wunder Jesu, um die Heilung eines Blindgeborenen. Doch daneben konfrontiert es mit ungewohnten Gedanken. Zum einen: Blindheit ist Strafe für Sünden. Zum andern die Aussage Jesu am Ende: wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde, da ihr aber sagt: wir sehen, bleibt eure Sünde. — Gibt es einen Zusammenhang zwischen Blindheit und Sünde?
Jesus räumt in seiner Antwort an die Jünger unmissverständlich auf mit der Vorstellung, dass Gott Sünden mit menschlichem Leid bestrafen würde. Damit erledigt sich auch der Umkehrschluss, dass jemand, dem es gut geht, ohne große Sünden vor Gott steht. Aber was meint Jesus damit, wenn er den Pharisäern sagt: Eure Sünde bleibt, wenn ihr sagt: wir sehen?
Die Leute sind uneins; muss Jesus, der Heiler des Blindgeborenen, ein Sünder sein, weil er das Sabbatgebot gebrochen hat? Sie beschimpfen den Geheilten und wollen sich von ihm nichts sagen lassen, da er in Sünde geboren sei. Sie nehmen das Wunder der Heilung gar nicht wahr, sie bleiben verstrickt in ihre gewohnten Sichtweisen.
Geht es mir nicht auch manchmal so? Ich sehe das Offensichtliche nicht, weil ein Vorurteil mir die Sicht verstellt. Ich sehe die Wahrheit nicht, weil ich sie nicht sehen will, weil ich meine bisherige Sicht der Dinge nicht aufgeben will. Ich überlasse die Entscheidung, wie etwas zu beurteilen ist, den Autoritäten, der Tradition, der Mehrheitsmeinung.
Doch ich kann die Verantwortung nicht abgeben, ich muss meinen Augen, meinem Herzen, meinem Gewissen trauen und entsprechend handeln. Wenn ich erkenne, dass ein Mensch aufgrund von Vorurteilen ungerecht behandelt wird und schweige; wenn ich aus Angst vor der Mehrheitsmeinung meine Überzeugungen verrate, wenn ich gar entgegen dem handle, was ich sehe: Dann bliebe ich ein sehender Sünder.
Kordula Müller-Hesse, Pastoralreferentin im Bistum Mainz
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