Meditation zum 4. Sonntag der Osterzeit
Gott will, dass ich lebe
Foto: Angelika Kamlage
Ob Jesus sich da nicht etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hat? Zugegeben, das Bild ist romantisch schön: Der gute Hirte ruft seine Schafe beim Namen, und die folgen ihm auf saftige Weiden. Fremde Stimmen beachten sie erst gar nicht.
Ein ehrlicher Blick auf mein Leben macht mich skeptisch. Nicht, dass ich der Stimme des guten Hirten nicht folgen wollte. Aber dass es mir immer gelingt, SEINE Stimme von den verführerisch bösen zu unterscheiden, kann ich nicht behaupten. Und auch die „Schafe“ Jesu sind wohl nicht davor gefeit, ihre Hoffnung auf „falsche“ Hirten zu setzen.
Leider gibt uns das Evangelium keine Liste mit den wichtigsten Unterscheidungskriterien für die „richtige“ Stimme. Aber Jesus macht etwas anderes deutlich: Er zeigt uns, wer Gott ist und was seine größte Sehnsucht für den Menschen ist: Leben in Fülle.
Diebe und Räuber – nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht – schrecken nicht davor zurück, das Leben anderer einzuengen oder gar zu vernichten. Im Gegensatz zu ihnen schenkt Gott Leben, ermöglicht es. Er selbst ist „Leben in Fülle“, und in Christus haben wir Anteil daran. Und zwar schon hier und jetzt, nicht erst irgendwann in einem „anderen“ Leben nach dem Tod: Wo ich wirklich lebendig bin, wo ich echte Freude oder tiefen Trost erfahre, wo ich von ganzem Herzen liebe und geliebt werde, wo ich authentisch sein und die Welt gestalten kann, wo ich im Vertrauen auf Gottes liebende Gegenwart lebe – da wird das verheißene Leben in Fülle schon Wirklichkeit.
Dieses Leben ist mir in Christus geschenkt, ich kann es nicht selbst machen oder mir verdienen. Aber Gott zwingt es nicht auf. Das Bild von der Tür macht deutlich: Ich bin frei. Christus ist die offene Tür zum Leben – durchgehen muss ich selbst. Auch wenn mich Ängste oder Zweifel daran hindern, auf seine Stimme zu hören und mich von ihm tiefer ins Leben führen zu lassen: Christus ruft mich geduldig beim Namen. Wo mich die Stimme — in aller Freiheit — zu mehr Lebendigkeit und Liebe zu uns selbst, zu Gott, dem Nächsten oder der Schöpfung ruft, da kann ich darauf vertrauen, dass es die Stimme des „guten Hirten“ ist. Denn Gott will, dass ich lebe. Darum ist er Mensch geworden: damit ich, damit alle das Leben haben – und zwar in Fülle.
Anna Stricker, Referentin im Arbeitsbereich Verkündigung und Ökumene, Bistum Trier